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Die heftigen Spannungen zwischen Griechenland und der Türkei, das libysche Chaos, die syrische Tragödie, die Annexion der Krim, die Besetzung des Donezbeckens durch Russland und seine Kumpanen, der Zerfall der staatlichen Ordnung in der Sahelzone, die schleichende Annexion des Südchinesischen Meeres durch Peking, die Beschleunigung der neostalinistischen Transformation des chinesischen Regimes, die Zunahme der Cyber-Angriffe… Sie alle stellen eine Bedrohung für die Sicherheit der Europäischen Union dar.
Andererseits stellt die Organisation des Nordatlantikvertrags (NATO) zusammen mit den Armeen ihrer Mitgliedstaaten und unter US-amerikanischer Führung nach wie vor das zentrale und heute unüberwindbare Element für die Verteidigung des europäischen Kontinents dar, trotz echter politischer Probleme (Höhe der Verteidigungsausgaben in ihren Mitgliedstaaten, die Türkei-Frage, die Verschiebung der strategischen Priorität der USA in Richtung Pazifik, usw.).
General de Gaulle hatte dies zu seiner Zeit bereits sehr gut verstanden. Innerhalb der Institutionen der EWG hatte der virtuose Haltungs-Künstler 1965 die Politik des leeren Stuhls eingeführt, ohne dieses beschämende „Ding“ aber zu verlassen. 1966 schlug er auf brutale Weise die Tür des integrierten Kommandos der NATO zu, achtete aber gleichzeitig darauf, die Mitgliedschaft Frankreichs im Atlantischen Bündnis keinesfalls zu gefährden.
Im Übrigen gibt es heute keine Alternative zur NATO und der Vormachtstellung Nordamerikas. Was die atomare Abschreckung anbelangt, so ist die derzeitige französische Doktrin nach wie vor die „Mitterrand-Doktrin“, das „Nein“ zur von Bundeskanzler Kohl vorgeschlagenen Ausweitung und Teilung der nuklearen Abschreckung.
Die NATO ist zwar nach wie vor das einzige echte Abschreckungsmittel – insbesondere gegenüber dem heutigen großen autoritären Staat Russland –, aber sie ist nicht dazu geeignet – und das ist nicht auch nicht ihre gesellschaftliche Daseinsberechtigung –, auf die Sicherheitsgefahren zu reagieren, mit denen die Union in ihrer Nachbarschaft und darüber hinaus konfrontiert ist.
Betrachtet man diese Beobachtung mit einer vorausschauenden Dimension – Regieren bedeutet vorsorgen –, wird die Dringlichkeit noch deutlicher. Auf der Grundlage des von den Vereinten Nationen erstellten Basisszenarios wird die Union der 27 im Jahr 2030 441 Millionen, und im Jahr 2050 422 Millionen Einwohner haben, während die Bevölkerung Chinas 1.440 bzw. 1.400 Millionen, die Indiens 1.510 bzw. 1.640 Millionen, die Indonesiens 295 bzw. 330 Millionen und die der USA 354 bzw. 379 Millionen betragen wird. In den Jahren 2030 und 2050 wird das BIP der Union bei 18 000 bzw. 24 000 Mrd. USD liegen, während das BIP Chinas 38 000 bzw. 58 000 Mrd. USD, das Indiens 19 000 bzw. 44 000 Mrd. USD, das Indonesiens 5 500 bzw. 10 500 Mrd. USD und das der USA 23 000 bzw. 34 000 Mrd. betragen wird.
Im Jahr 2030 wird nur noch ein einziger EU-Mitgliedstaat unter den Top 10 der Wirtschaftsmächte sein (Deutschland) und drei weitere unter den Top 20 (Frankreich, Italien und Spanien). Im Jahr 2050 wird Deutschland noch immer unter den Top10 sein (auf Platz 9), während Frankreich als einziges anderes EU-Land unter den Top20 rangieren wird (auf Platz 12). Im Jahr 2030 wird die Union hinsichtlich des BIP nur noch an dritter Stelle stehen, und 2050 nur noch an vierter, d. h. weit hinter China, Indien und den USA.
Auf der Grundlage dieser zukunftsgerichteten Daten – die natürlich mit der üblichen Vorsicht zu betrachten sind – und auf der Grundlage dieser Unterscheidung zwischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik – die gewisse Transferphänomene zwischen beiden natürlich nicht ausschließt –, müssen Schlussfolgerungen gezogen werden, insbesondere hinsichtlich der Angemessenheit bzw. Unangemessenheit der heute und morgen auf diese beiden Arten von Bedrohungen gegebenen Antworten. Diese Schlussfolgerungen müssen unserer Meinung nach berücksichtigen, dass die Union eine echte europäische Sicherheitspolitik braucht.
Wir müssen uns den Tatsachen stellen, wie dies bei der Einleitung des europäischen Integrationsprozesses mit der Gründung der Gemeinschaft für Kohle und Stahl auf Initiative von Schumann und Monnet, bei der Einführung des Binnenmarktes in den Delors-Jahren oder des Euro zur Jahrtausendwende der Fall war: Was die europäische Sicherheitspolitik betrifft, so können wir uns irgendwann nicht mehr damit begnügen, „auf dem Weg zur Schaffung einer echten europäischen Armee voranzukommen“ 1, wie es der spanische Ministerpräsident Pedro Sánchez gewünscht hat. Die Ambitionen müssen in ein präzises, konkretes und greifbares Ziel umgesetzt werden, ansonsten bleibt es ein Wunschdenken. Mit anderen Worten: Die Union muss sich ein gemeinschaftliches Werkzeug geben: Eine gemeinsame europäische Armee.
Der zentrale Punkt ist also, zu verstehen, welche Widerstände es hinter den schönen Erklärungen noch gibt: Was hindert uns noch an der Umsetzung dieser neuen Politik, dieser neuen Teilung der Souveränität, die für die Zukunft der Union und ihrer Mitgliedstaaten so entscheidend ist, und von einer großen Mehrheit der Unionsbürger gewünscht wird 2?
Hier sind einige von den unserer Meinung nach wichtigsten Widerständen, in der Reihenfolge ihrer zunehmenden Bedeutung.
Die Angelsachsen
Viele sind überzeugt, dass die USA – und mit ihnen die Briten – niemals der Entstehung einer gemeinsamen europäischen Armee zustimmen würden, die autonom wäre, selbst wenn sie in die NATO integriert wäre. Die oben erwähnten zukunftsorientierten Zahlen, sowie der gesunde angelsächsische Pragmatismus lassen uns allerdings das Gegenteil vermuten. Dies ist übrigens bereits der Fall. Es ist in der Tat kein Geheimnis, dass die Amerikaner mit der Verantwortungsübernahme der französischen Armee in der Sahelzone sehr wohl zufrieden sind. Zweifellos wird es einige Bedenken, vielleicht sogar gewisse Vorbehalte geben, insbesondere von der nordamerikanischen Rüstungsindustrie.
Aber das Ausmaß der amerikanischen Herausforderung im pazifischen Raum ist so groß, dass es kaum Zweifel daran gibt, dass dieser Widerstand Washington nicht standhalten würde, zumal dies der Ansicht ist, dass ein stärkerer europäischer Verbündeter sehr nützlich wäre, auch im Pazifik.
Die atlantischsten Atlantiker
Eine Reihe von Mitgliedstaaten im Norden und Osten der Union befürchten aus verschiedenen Gründen, dass eine solche Initiative die Entschlossenheit der USA zu ihrer Verteidigung schwächen könnte. Sie neigen daher dazu, jede Initiative im Sicherheitsbereich als ein rotes Tuch zu betrachten, wodurch sie die Verwechslung zwischen sehr unterschiedlichen Zielen fördern, und „gemeinsame europäische Armee“ und „einzige europäische Armee“, sowie Sicherheitspolitik und Verteidigungspolitik verwechseln. Wenn diese Länder – wie wir glauben – ihre Mitgliedschaft in der Union als einen wichtigen Sicherheitsfaktor betrachten würden, der ihre NATO-Mitgliedschaft ergänzt und nicht in Konkurrenz zu ihr steht, sollten sie der politischen und militärischen Stärkung der Union nicht gleichgültig gegenüberstehen.
Die italienische Rüstungsindustrie
Ungenutzte Gelegenheiten der Beteiligung an europäischen Großprojekten in der Luft- und Raumfahrt und zu Lande, sowie andere nicht gegebene Gelegenheiten haben letzten Endes zu einer Art angelsächsischem Tropismus in der politischen Klasse und bei den großen italienischen Rüstungskonzernen geführt. Um es beschönigend auszudrücken: Der mangelnde Takt der jüngsten italienischen Regierungen gegenüber anderen Mitgliedsstaaten hat zu – unserer Meinung nach 3 – unerwünschten Vergeltungsreaktionen der letzteren geführt, was die ganze Situation – obwohl weder unvermeidlich noch unvereinbar – noch verstärkt. Darüber hinaus wäre es für die anderen Mitgliedstaaten politisch riskant, Italien aufgrund seiner gegenwärtigen politischen Schwäche und der antieuropäischen Neigung eines entscheidenden Teils seiner politischen Klasse (jeder Hinweis auf die Fünf-Sterne-Bewegung einerseits, auf die Liga und die Brüder Italiens andererseits ist nicht zufällig) in einem so lebenswichtigen Bereich wie der Sicherheitspolitik zu ignorieren.
In Erwartung besserer politischer Tage, könnten Alessandro Profumo und Giuseppe Bono 4 wertvolle und in gewisser Weise „institutionelle“ Gesprächspartner sein, um dieses neue Szenario zu sondieren.
Das Merkelsche Deutschland
Die deutsche Bundeskanzlerin ist seit langem eine treue Verfechterin des deutschen Merkantilismus, d. h. eines Merkantilismus, der vom ewigen kantischen Frieden geprägt ist. Es bedurfte der Annexion der Krim und der Besetzung des Donezbeckens durch Moskau und seine Kumpanen, um Angela Merkel dazu zu bewegen, die Bedeutung der Union als politische Realität zu begreifen, und sich ihrer strategischen Schwächen bewusst zu werden. Die europäische Reaktion auf die russische Aggression – so unzureichend sie auch sein mag – ist in der Tat vor allem ihr zu verdanken. Allerdings zeigt ihre Hartnäckigkeit in der Nord-Stream-2-Affäre, dass dieser eher politische Ansatz nach wie vor von einem robusten merkantilistischen Credo geprägt ist. Und dieses hindert sie daran, ihren europäischen Partnern eine Teilung der sicherheitspolitischen Souveränität vorzuschlagen. Zu ihrer Entlastung sei an drei Abfuhren des französischen Partners erinnert: Der Vorschlag von Kohl zur gemeinsamen Nutzung der atomaren Abschreckung im Jahr 1988, die Vorschläge von Schäuble und Lammers für eine politische Union der Länder im Herzen Europas im Jahr 1994, und schließlich die Vorschläge von Fischer für eine europäische Föderation im Jahr 2000.
Frankreich, die Achillesferse der europäischen Sicherheit
Wenn die „Konfettis des Imperiums“, wie General de Gaulle sie einst nannte, im Wesentlichen dazu beitragen, Frankreich die zweite ausschließliche Wirtschaftszone (AWZ) zu verleihen, dann müssten einige von ihnen – unabhängig davon, ob sie ausdrücklich in die Europäische Union integriert sind oder nicht – aufgrund ihrer strategischen Lage und/oder des potenziellen Reichtums der großen Meeresgebiete, die sie umgeben, auch Gegenstand ernsthafter strategischer Fragen für die Union als solche sein. Nicht nur für Frankreich.
Einige Experten sind der Ansicht, dass bestimmte amerikanische Stützpunkte im Pazifik Objekte der Begierde eines asiatischen Riesen sein könnten. Zudem fragen sie sich, ob die USA mittelfristig fähig sein werden, sie zu verteidigen. Dies gilt zweifellos auch für den einen oder anderen Teil der französischen Gebiete im Pazifik und/oder in der Antarktis.
Da die nukleare Abschreckung in diesem Fall offensichtlich wirkungslos ist, ist es schwer vorstellbar, wie das mit einem „halben Flugzeugträger“ 5 ausgestattete Frankreich – wie Valéry Giscard d’Estaing es ausdrückte –, einer feindlichen Macht die Stirn bieten könnte, zumal diese möglicherweise geographisch näher oder sogar viel näher an dem begehrten Gebiet liegt, und sicherlich mit einer viel größeren Seekapazität ausgestattet ist, bzw. von der Erfahrung gestärkt ist – sei es auch unter Missachtung des Seerechts –, felsige Riffe in neue Inseln und militärische Festungen zu verwandeln.
Was würde dann aus der Solidaritätsklausel, die besagt: „Im Falle eines bewaffneten Angriffs auf das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats schulden die anderen Mitgliedstaaten ihm alle in ihrer Macht stehende Hilfe und Unterstützung“? Was geschieht, wenn eine Supermacht eine Insel und erst recht eine unbewohnte Insel oder Riffe annektiert, die mehr als 10.000 km von Brüssel entfernt sind? Man braucht kein bewanderter Experte sein, um sich die Vorbehalte bestimmter Mitgliedstaaten und ihrer jeweiligen Öffentlichkeiten, sowie die verheerenden Auswirkungen vorzustellen, die ein solches Ereignis auf den Zusammenhalt der Union oder sogar auf ihr Überleben selbst hätte.
Ein gemeinsames Werkzeug und ein gemeinsamer institutioneller Ort
Auf der Grundlage dieser und anderer Überlegungen erarbeitete eine kleine Gruppe von Personen aus militärischen, diplomatischen und politischen Kreisen – von denen einige aus beruflichen und institutionellen Gründen anonym bleiben müssen –, einen Vorschlag für eine verstärkte Zusammenarbeit. Ziel ist es, neben den Armeen der Mitgliedstaaten eine gemeinsame europäische Armee zu schaffen.
Dieser Vorschlag basiert auf zwei Leitgedanken:
– Die vollständige institutionelle und politische Integration dieser Armee in die derzeitigen Institutionen der Union, wobei der Europäische Rat in diesem Rahmen als Sicherheitsrat der Union fungiert und befugt ist, den Einsatz der gemeinsamen Armee auf Vorschlag des Kommissionspräsidenten zu genehmigen.
– Den Ausschluss der Option einer Koordinierung oder Integration von Teilen der nationalen Armeen zugunsten der Option einer Schaffung einer gemeinsamen europäischen Armee ex nihilo, die sich aus europäischen Offizieren und Soldaten zusammensetzt.
Den Vorschlag für eine verstärkte Zusammenarbeit können Sie hier lesen.
Notes:
- Pressemitteilung des Europäischen Parlaments, 16. Januar 2019, https://www.europarl.europa.eu/news/de/press-room/20190109IPR23019/pedro-sanchez-we-must-protect-
europe-so-europe-can-protect-its-citizens ↩ - « Defense: is the European Union creating a European army? » https://www.europarl.europa.eu/news/fr/headlines/security/20190612STO54310/defense-l-union-
europeenne-cree-t-elle-une-armee-europeenne ↩ - Ein Beispiel dafür ist der Ausschluss Italiens aus dem deutsch-französisch-spanischen Programm zum Bau eines neuen Kampfflugzeugs. ↩
- Jeweils geschäftsführender Direktor der Leonardo-Gruppe (ex-Finmeccanica) und der Fincantieri-Gruppe ↩
- Wegen des Zeitaufwands für Wartung und Instandhaltung ist ein atomgetriebener Flugzeugträger nur etwa 200
Tage im Jahr in Betrieb. ↩
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